WATTWIL. Der Leiter der psychosomatischen Abteilung (PSA) am Spital Wattwil, Roland Walther, geht nach gut neun Jahren in Pension. Roland Walther hat Jahrgang 1956 und stammt aus Grenchen. Er leitet unter anderem das Netzwerk Begleitung, engagiert sich in kirchlichen Institutionen und präsidiert die SP Lichtensteig. Welche Bilanz ziehen Sie?
Es war eine gute Zeit. Die Arbeit macht immer noch Spass. Ich konnte ein bestehendes Team übernehmen, das mit einer Ausnahme unverändert blieb. Nach zehn Jahren in einer Leitungsfunktion sollte man wechseln oder sich, wie in meinem Fall, pensionieren lassen, sich selber, der Institution und dem Team zuliebe.
Gab es in dieser Zeit besonders lustige oder besonders traurige Erlebnisse?
Traurige sind häufig. So passiert es immer wieder, dass Patienten sich in der Therapie Mühe geben, dass aber ihre Leber zu stark geschädigt ist. Es kommt auch vor, dass Personen in der Therapie alles richtig machen und durch eine Veränderung im sozialen Umfeld ins frühere Trinkverhalten zurückfallen. Es gibt ebenfalls lustige Momente. Alkoholabhängige Leute haben Humor wie andere Menschen. Einmal verwechselte ich beim Vorgespräch den Patienten mit der Begleitperson.
Wie kamen Sie zur Leitung der Station für Alkohol-Kurzzeit-Therapie?
Ich zog aus familiären Gründen in die Ostschweiz und bewarb mich für diese Stelle. Ich hatte vorher Leitungsfunktionen im Suchtbereich in Basel und im Aargau inne. Als Leiter der polyvalenten Beratungsstelle für Sucht und Prävention in Zofingen arbeitete ich mit der PSA Wattwil zusammen.
Wie unterscheidet sich die Arbeit im Suchtbereich in Basel-Stadt, im Aargau und in der Ostschweiz?
Die psychiatrische Universitätsklinik Basel ist ein Grossbetrieb. Ich war ein kleines Rad mit einer gewissen Autonomie. In Zofingen leitete ich eine ambulante Beratungsstelle. Ambulante Patienten sieht man eine Stunde pro Woche. Das ist eine ganz andere Arbeit als in Wattwil, wo die Patienten dreieinhalb Wochen lang die ganze Zeit anwesend sind.
Dann ist die stationäre Arbeit effizienter als die ambulante?
Das kann man so nicht sagen. In der stationären Arbeit kann man in kürzerer Zeit mehr erreichen als in der ambulanten. Dafür kann der Patient einer ambulanten Station die Informationen, die er in einer Sitzung erhält, eine ganze Woche lang einsinken lassen. In der ambulanten Arbeit können zudem beide Seiten leichter eine gewisse Distanz wahren.
Ist Wattwil der richtige Standort für die PSA? Früher siedelte man Trinkerheilanstalten abseits grösserer Orte an.
Dass die PSA in Wattwil einem somatischen Spital angeschlossen ist, hat viele Vorteile. Nicht nur können wir die Infrastruktur des Spitals nutzen. Die Hemmschwelle für Patienten ist tiefer, wenn man sagen kann, <Ich gehe ins Spital Wattwil> anstatt sagen zu müssen, <Ich gehe in eine psychiatrische Klinik oder in die Forel-Klinik in Ellikon>.
Spielt dieser Mechanismus heute noch?
Ja, obwohl es in den letzten Jahren eine Enttabuisierung der Alkoholabhängigkeit gab. Patienten sind heute eher bereit als früher, sich gegenüber Bekannten, Verwandten oder dem Arbeitgeber zu outen. Je mehr Menschen wissen, dass jemand ein Alkoholproblem hat, desto mehr kann das Umfeld bei einem problematischen Konsum oder bei einem Rückfall unterstützend wirken.
Ist Alkohol als Suchtmittel im Toggenburg auf dem Rückzug oder auf dem Vormarsch? Früher gab es ja einen Hype um Alcopops.
Die Alcopops sind immer noch da, sie sind einfach akzeptiert. Rund 300 000 Personen sind in der Schweiz alkoholabhängig, und etwa eine Million hat ein problematisches und somit auch gefährliches Trinkverhalten. Diese Zahlen sind über die Jahre hinweg konstant. Zudem sinkt das Alter, in dem erstmals Alkohol getrunken wird. Solange Jugendliche in der psychischen und physischen Entwicklung stehen, ist Alkoholkonsum noch schädlicher als sonst. Die Folgen werden wir in 20 Jahren sehen.
Wie ist das zahlenmässige Verhältnis Männer-Frauen unter den Patienten der PSA?
Heute sind es zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen. Das Verhältnis wird sich in Richtung 1:1 bewegen, da die Frauen beim Alkoholkonsum aufholen.
Wie hoch ist die Erfolgsquote der Alkohol-Kurzzeit-Therapie in der PSA Wattwil?
Wir sind weder besser noch schlechter als andere Kliniken. Bei je einem Drittel der Patienten sind eine massive oder eine sporadische Verbesserung erreichbar. Ein Drittel schafft es nicht. Die Statistiken basieren auf persönlichen Gesprächen und auf Fragebögen. Wir haben jedes Jahr 150 bis 170 Personen in der PSA Wattwil. Das stellt hohe Anforderungen ans Team. Die Teammitglieder müssen zum Beispiel die Abschlussberichte schreiben, während neue Therapien beginnen.
Gibt es eine positive Selektion unter den Patienten für die Kurzzeit-Therapie?
Wir müssen in Wattwil in dreieinhalb Wochen das hineinpacken, für das andere Kliniken drei Monate Zeit haben. Wir haben deshalb einige Anforderungen an potenzielle Patienten, welche wir in einem Vorgespräch abklären. Die Therapie in der PSA Wattwil ist gut geeignet für Personen, die körperlich und geistig noch fit sind, ein soziales Umfeld haben, allenfalls sogar noch im Arbeitsprozess stehen und plötzlich auf Grund eines aussergewöhnlichen Lebensereignisses ein problematisches Trinkverhalten an den Tag legen. Die Zuweiser wissen das, denn wir existieren seit 29 Jahren.
Ist die Nachbetreuung der Patienten im Toggenburg gewährleistet?
Ja, da oft die Zuweiser die Nachsorge übernehmen. Die Zuweiser sind meist Hausärzte, Suchtberatungsstellen oder Sozialdienste von Institutionen.
Wo müsste man ansetzen, um den Alkoholismus mit Erfolg zu bekämpfen? In den USA war die Prohibition ein Misserfolg.
Die Prohibition ist ein total verkehrter Ansatz. Eine seriöse Aufklärung wirkt und die stete Wiederholung ist pädagogisch sinnvoll. Die Politik sollte deshalb mehr Geld in die Prävention investieren, obwohl deren Erfolg nicht messbar ist.
Geschieht das im Kanton St. Gallen nicht in genügendem Mass?
Der Kanton St. Gallen spart bei den ambulanten Beratungen. Das ist meiner Meinung nach kein guter Ansatz. Eine gute Prävention und ein umfassendes Angebot ambulanter Therapien hilft, stationäre Therapien zu vermeiden. Momentan gibt es bei vielen Suchtberatungsstellen jedoch lange Wartezeiten für die Patienten.
Wie ist die Situation im Bereich der illegalen Drogen?
Die Heroin-Kokain-Szene ist kleiner als zu Zeiten der offenen Drogenszenen im Platzspitz und im Letten in Zürich. Viele Drogensüchtige sind in Substitutionsprogrammen, etwa Methadon-Abgabe-Programme, und führen ein einigermassen geregeltes Leben. Neben der Heroin-Kokain-Szene gibt es eine Kokain-Szene unter den Yuppies und Nerds sowie eine Crystal-Meth- oder Speed-Szene.