Michael Hug
Wieder zwitschern die Meisen in der Linde: «Bevor wir in die Luft fliegen, da fliegen wir einfach in die Luft!» Stein des Anstosses ist ein herrenloser, «damenloser», Koffer, der verdächtig auf dem Dorfplatz von Grosshöchstetten herumsteht. Er scheint niemandem zu gehören, auch nicht der Lettin Agneta, Hausmagd, Ausländerin und Einbürgerungskandidatin an der abendlichen Gemeindeversammlung. Die Versammlung leitet der langjährige Gemeindepräsident Peter Kellerberger, ein Mann, der mit allen Wassern gewaschen ist und bereits ziemlich zweifelhafte Schritte eingeleitet hat, damit Agnetas Antrag durchfallen wird.
Leben und Lieben in Grosshöchstetten
Mit dem Setting «Leben und Lieben in Grosshöchstetten» bringen die Kabarettisten Schön & Gut alias Anna-Maria Rickert und Ralf Schlatter die dritte Episode namens «Mary» auf die Bühne. Dieselben Figuren - Frau Schön, Herr Gut, der Pfarrer, der Metzger, der Gemeindepräsident, Herr und Frau Meise - bilden auch die Hauptdarstellenden der zweiten Fortsetzung. Die Liebesgeschichte von einst ist längst in den Hintergrund getreten, tiefe Abgründe tun sich nun auf, wieder wird der Dorfkönig zwar vorgeführt, aber er fällt wieder nicht. Das Fallen, der Bankrott, widerfährt Metzger Georg, er fällt aus dem Drehbuch und wandert aus.
Eine mit Kopftuch
Dafür wandert eine mit Kopftuch ein, die Lettland-Russin Agneta, die mit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung den Antrag auf Einbürgerung stellt, aber leider etwas naiv vorgeht bei ihrer Integration und in der Folge des Diebstahls bezichtigt wird. Als auch noch die Amerikanerin Mary auftaucht und mit Millionen winkt, steht Kellenbergers Taktik für die Einbürgerungsversammlung fest: Die eine muss raus, die andere wird eingebürgert. Und die Meisen zwitschern: «Hoffnung Laroche!» Damit dreht die Sache ins Sozialkritische, dann wird’s politisch. Fertig lustig ist, Schön & Gut ziehen vom Leder: «Was ist mit den Schweizern, die im Ausland geboren sind?» «Das sind Auslandschweizer!» «Und was sind Eidgenossen?» «Eidgenossen sind die Schweizer, die keine Ausländer waren, bevor sie Schweizer geworden sind.» Auch in der dritten Generation noch.
Den Gemeindepräsidenten vorgeführt
Schlatter und Rickert schaffen es, mit «Mary» eine weitere Episode ihres Kleinbürgermelodrams abzuliefern, die mit Wortwitz und Wortspielen tief in der Seele des Kleinbürgertums kramt. Mit der aktuellen politischen Stimmung, noch dazu am Vorabend des Abstimmungssonntags, bekommt das fast zweistündige Stück enorme Relevanz. Natürlich lässt sich in ein solches Setting viel sozialpolitische Kritik einpacken, und Schön & Gut tun dies auch, ungehemmt und intelligent. Doch die Verständigungsprobleme bleiben. Agneta, deren Antrag auf Druck der reichen Mary wieder aufgenommen wird, sagt zu Kellenbergers Vorschlag, sie sei ja eigentlich die geborene Herbergsmutter: «Kann ich nicht geboren Herr Bergs Mutter - wär’ ich ja meine Grossmutter!» Der damenlose Koffer übrigens gehörte zu Marys Tarnung. Mary war nämlich Frau Schön. Schön hat sie damit den Gemeindepräsidenten vorgeführt.