Flügelhaube, Fichu, Fueterschlutte. Herzschlüüfer, Hasehöörig Huet. Plüschlismer.
Ja, das Toggenburg kennt eine ausgeprägte Trachtentradition. Werchtigsgwand und Sunntigsgwand, Tschöpplitracht und Trauertracht, Sennentracht und Festtagstracht - im Kanton ist keine Region so reich an textiler Überlieferung wie das Thur- und Neckertal.
Tracht zu tragen ist hier selbstverständlich. Der Juwelier präsentiert goldenen und silbernen Trachtenschmuck in der Schaufensterauslage.
Direktor trägt rot
Der Bankdirektor trägt am Jodlerabend das scharlachrote Brusttuch. Die Trauzeugin leistet ihre Unterschrift ganz in bordeauxfarbene Taffetseide gekleidet. Und der Jungbauer im weiss bestickten Chüelihemd - er steht an für einen Cheeseburger am Imbissstand im Festzelt.
Das Toggenburg lebt die Tracht. Ob Firmung, Diplomierung oder Trauung - für kirchliche, schulische oder familiäre Anlässe war der Einheimische damit seit jeher passend angezogen. Doch wer über die vergangenen Monate im Toggenburger Tagblatt all die Gruppenfotos genauer angesehen hat, die anlässlich von Kommunion, Firmung oder Lehrabschluss entstanden sind, der erkennt: Dem traditionellen Gewand ist Konkurrenz erwachsen: Auf dem einen Bild stellt sich eine junge Frau dem Fotografen - die Taille geschnürt, die Schürzenbändel geknotet. Auf dem zweiten posiert eine andere fürs Gruppenbild - frivol umspielt der Midi-Rocksaum das Knie. Und die dritte dort - ihr Kleid kombiniert das tiefe Flaschengrün mit der altrosa Zuckergusssüsse eines Lebkuchenherzens. Sie alle tragen: Dirndl.
Es besteht kein Zweifel: Im Sommer 2016 fordert das Dirndl seinen Platz im Toggenburger Kleiderschrank. Aus Deutschland und Österreich kommend hat es sich aus dem Halligalli-Umfeld der Schlager-Festivals und der Polterabende gelöst.
Hossa! Auch bei uns will das Dirndl jetzt Festtagsmode sein. Verflogen scheint der Widerwille, mit dem das Publikum noch vor zwei Jahren am Nordostschweizer Schwingfest auf die dortigen Ehrendamen im Bayern-Look reagierte: «Was hat ein Dirndl an einer Schwingfest-Veranstaltung zu suchen?», empörte sich in der Folge eine Leserbriefschreiberin. Und vergessen ging offenbar, dass die Präsidentin einer Trachtenvereinigung damals in der Zeitung nachdoppelte: «Ich finde es schade, dass an vielen traditionellen Anlässen die Tracht durch das Dirndl ersetzt wird.» Historisch gesehen ist das Dirndl nicht mehr als das Unterkleid einer Magd. Ende des 19. Jahrhunderts wandelte es sich vom Arbeitskittel zum Kleid für die Städterin aus der Oberschicht, die ihre Ferien - die sogenannte Sommerfrische - auf dem Land in den Bergen verbracht hatte und sich auch daheim so kleiden wollte. «Das Dirndl stand von Beginn an für eine städtische Vorstellung vom Land», sagt Simone Egger von der Ludwig-Maximilian-Universität München. Die Volkskundlerin hat mit «Phänomen Wiesntracht - Identitätspraxen einer urbanen Gesellschaft» ein bedeutendes Buch zum alpenländerweiten Trend zur Tracht geschrieben. Diesen erklärt Egger mit dem starken Wunsch der mobilen Gesellschaft nach Identität.
Demnach suchen Menschen gerade in Zeiten globaler Vernetzung das Lokale und Regionale; sie suchen Heimat, Tradition und Authentizität, Bestand und Zugehörigkeit, was sie alles in der Tracht - vielmehr in der urbanen Vorstellung vom ländlichen Gwand - denn auch finden. Und nicht nur das. Der Soziologe Sascha Szabo erkennt im Dirndl auch eine Rückbesinnung auf eindeutig weibliche Erkennungsmerkmale und damit einen Reflex auf die gewandelten Geschlechterrollenbilder: «Kräftige Männer mit strammen Wadln und fesche Frauen mit Holz vor der Hüttn, diese Rollenbilder, was typisch Frau oder typisch Mann sei, existieren ja heute nicht mehr. Umso dringlicher werden sie mit der Renaissance der Tracht gesucht», sagt Trendforscher Szabo vom Institut für Theoriekultur der Universität Freiburg. Er deutet den Trend zur Tracht stark als eine Aufwertung von Körperlichkeit.
Für diese These spricht das, was Traditionskenner in der Art und Weise sehen, wie die Schleife am Dirndl gebunden wird. Das Band wird nämlich als regelrechter Code für den Beziehungsstatus verstanden. Sitzt die Schleife links, so soll die Frau Single und auf Partnersuche sein. Sitzt sie rechts, dann ist die Dirndlträgerin vergeben. Eine historisch verbürgte Sitte? Nein, vielmehr passend erfunden.
Keine Verdrängungssorgen
Sorge, dass das alpenausländische Dirndl die einheimische Frauentracht bedrängt, braucht im Toggenburg jedenfalls niemand zu haben. Hat doch seine moderne Version mit der ursprünglichen Bergtracht kaum etwas gemeinsam und ist bloss als «individuell rekombiniertes Modezitat» (Szabo) zu verstehen.
Oder würden Sie in einem gelb-schwarzen Dirndl in der schulterfreien «Carmen»-Variante (auch das gibt's!) auf den Hüsliberg zum Jodlerabend gehen?