Der Ausflug auf den Säntis beginnt in Urnäsch. Mit dem Postauto kann man sich auf der Schwägalp gemütlich an der langen Reihe von Autos vorbei kutschieren lassen. Lächelnd beobachten die Fahrgäste die Autofahrer, die an einem sonnigen Ferientag ihr Fahrzeug beim Restaurant Passhöhe parkieren und den Rest des Wegs zu Fuss zurücklegen müssen. Doch leider sieht der Fahrplan nur einen Kurs pro Stunde zwischen Urnäsch und der Schwägalp vor. Damit haben zumindest die Fahrgäste, die über eine halbe Stunde warten mussten, nichts zu lachen. Als in Urnäsch ein älterer Herr mit seinem zusammengeklappten Rollator einen Zweiersitz belegen will, interveniert der Chauffeur. Er weiss wieso. Das Postauto füllt sich bis auf den letzten Platz, wobei die Senioren in der Überzahl sind. Manche mit Rollator oder Gehhilfe, andere in Wanderschuhen und mit Rucksack. Auch zwei, drei Enkelkinder dürfen mit auf den Ausflug. Mit gelegentlich ertönendem Dreiklanghorn kurvt der Bus den Hügel hinauf und hält direkt vor dem neuen Hotel.
Gäste aus der ganzen Schweiz
Wer sich die Autos auf dem Parkplatz anschaut, erkennt: Die Einheimischen sind klar in der Unterzahl - oder aber parkieren hauptsächlich auf den für Angestellte reservierten Plätzen. Aus St. Gallen und dem Thurgau sind einige Gäste angereist, aber fast genau so viele kommen aus Zürich, Genf, Basel oder dem nahen Ausland. Die ganze Schweiz scheint sich am Säntis zu versammeln.
Beim Ticketschalter für die Schwebebahn heisst es anstehen. Bei den aus dem Welschland stammenden Gästen dauert der Ticketkauf aufgrund der Sprachbarriere etwas länger, bei den Senioren, weil sie auch gleich das Mittagsmenu im Gipfelrestaurant bezahlen möchten. Dabei ginge das Ganze flott: «Grüezi. Einmal Berg- und Talfahrt mit Halbtax bitte» - und schon hält man das Stück Papier in der Hand.
Rucksack oder Handtasche
Dass, auch wenn es für viele Ostschweizer selbstverständlich ist, noch lang nicht jeder einmal auf dem Säntis war, wird spätestens während der Bergfahrt klar. Als das Bähnli die Kuppe bei der zweiten Stütze passiert, präsentiert sich den Fahrgästen plötzlich das Panorama über die Churfirsten bis zu den Bergen der Innerschweiz. «Oh!», «Wow!» und «C'est magnifique!» tönt es. Einige Gäste erklären ihren Begleitern, wo der Wanderweg durchführt. Von «Hier sind wir auch schon lang gegangen» bis «Das würde ich mir nie zutrauen» sind alle Reaktionen vertreten.
Oben angekommen, teilt sich die Masse. Die meisten zieht es zu den Panoramafenstern, andere ins Restaurant, um sich einen möglichst guten Sitzplatz zu sichern. Die Ankömmlinge werden von den wartenden Talfahrenden beäugt. Die meisten von ihnen sind Berggänger. Sie sind - wie es sich für Wanderer gehört - am frühen Morgen bereits los und machen sich jetzt auf den Heimweg. Sie sind müde aber stolz, tragen schwere Schuhe und praktische Kleidung. Die Touristen stellen den krassen Kontrast dazu dar: gekleidet in enge Hose, Sommerkleid und Sandalen, mit Handtasche am Arm, Fotoapparat um den Hals und Fido an der Leine.
Verständnis für die Bergwirte
Wanderer und Touristen: Zwei Gattungen Mensch, die sich im Tal kaum unterscheiden, sich auf dem Berg jedoch mit gänzlich verschiedenen Werten gegenüberstehen. Der eine oder andere entnervte und gar abschätzige Blick ist da vorprogrammiert. Beispielsweise stören sich einige Touristen an den grossen Rucksäcken, mit denen die Wanderer sich durch die Menge bewegen. Vor allem auf der Terrasse des «Alten Säntis» sammeln sich die Menschen. Für viele Berggänger ist es eine Frage der Ehre, im eigentlichen Bergrestaurant einzukehren und nicht im topmodernen Selbstbedienungsrestaurant im Gipfelgebäude. Aber: Auch vielen Touristen gefällt das etwas urchigere Ambiente des «Alten Säntis» - auch wenn dieses Restaurant ebenfalls längst modernisiert wurde. Doch die vielen Rösti mit Steak und Chäshörnli mit Siedwurst bringen die Küche an ihre Belastungsgrenze, die Gäste müssen warten. Nicht alle finden das lustig, manch leise Beschwerde wird ausgetauscht. Auch die Berggänger haben Hunger, doch scheint dieser Schlag Mensch mehr Verständnis für Bergwirte aufzubringen.
Die Schwebebahn ist für alle da
Ein weiterer, grosser Unterschied zwischen Touristen und Berggängern ist am Ende der Himmelsleiter zu beobachten. Dort, wo der Aufstieg geschafft ist, befindet sich eine kleine Plattform. Nicht selten finden Touristen den Weg dorthin, um Selfies zu schiessen und sich den Wanderweg von oben anzuschauen. Lustige Szenen spielen sich da ab. Touristen versuchen, auf Fotos möglichst gut auszusehen, während im Hintergrund Berggänger ausser Atem und mit zittrigen Beinen die letzten Stufen der steilen Himmelsleiter erklimmen, sich erschöpft auf den Boden setzen und den Schweiss abwischen.
Wanderer und Touristen: zwei unterschiedliche Gattungen Mensch. Doch gerade auf dem Säntis, der ohne Anstrengung erreichbar ist, müssen sie aneinander vorbeikommen. Dass nicht jeder Wanderer, der die Ruhe der Berge gesucht und den Gipfel im Angesicht seines Schweisses erklommen hat, den Touristen, der völlig mühelos auf den Berg geschwebt ist, mit Wohlwollen betrachtet, mag verständlich sein. Doch jeder Berggänger, der den Aufstieg zwar geschafft hat, aber über keine grossen Kraftreserven mehr verfügt, freut sich gewiss über die Tatsache, dass die Schwebebahn jeden mühelos ins Tal transportieren kann.